* 41 *
Feuerspei schnarchte laut neben dem Kamin. Alther hatte versucht, den Drachen wieder hinauf ins Lehrlingszimmer zu bringen, aber seit dem letzten Wachstumsschub war die Treppe für Feuerspei zu schmal. Zum Glück hatte Septimus die halb zernagten Überreste von Wie man die Aufzucht eines Drachen überlebt: ein praktischer Ratgeber gefunden und es geschafft, einen durchweichten Schlafhypnosezauber zu entziffern, der zu seinem Erstaunen auch tatsächlich funktioniert hatte.
Jetzt waren Jenna, Beetle und er mit einer grausigen Aufgabe beschäftigt. Sie sammelten die zerbrochenen Teile des Schattenfangs ein und zogen daraus verschiedene Knochen hervor – Menschenknochen.
»Ich dachte, wir in Nummer dreizehn machen gruselige Sachen«, sagte Beetle, »aber gegen das hier ist das ja gar nichts. Macht ihr so etwas jeden Tag, Sep?« Er nahm vorsichtig ein paar gekrümmte Teile auseinander, die von der Spitze des Schattenfangs stammten. Wie sich herausstellte, enthielten sie sämtliche Rippen eines Brustkorbes.
»Nein, nicht jeden Tag«, antwortete Septimus und zog mit angewidertem Gesicht einen langen dünnen Knochen aus einer Stange, die eine der Ecken gebildet hatte. »Aber heute ist der letzte Donnerstag im Monat, was erwartest du da?«
Beetle reichte Jenna, die die Knochen auf dem Fußboden aneinander legte, eine weitere Rippe. »Wie? Ihr macht so etwas an jedem letzten Donnerstag im ...« Er sah, dass Septimus grinste. »Sehr witzig, Sep. Fast wäre ich dir auf den Leim gegangen. Ich habe jetzt vierzehn, Prinzessin.«
»Jenna«, korrigierte ihn Jenna. »Sag einfach Jenna.«
»Oh, Verzeihung ... Jenna. Also, das sind bis jetzt vierzehn Rippen, und hier drin sind noch mehr. Seht mal, wie genau sie eingepasst sind. Die sind so gut versteckt, dass man sie nie entdeckt hätte. Nicht in tausend Jahren. So, und hier die nächste. Nummer fünfzehn.«
»Hm, reizend. Danke, Beetle.«
»Keine Ursache, Prinzessin ... äh, Jenna.«
Jenna ließ den Blick über die grausige Sammlung gleiten, die vor ihr ausgebreitet lag wie ein makaberes Puzzle. Auf Marcias bestem chinesischem Teppich war langsam ein menschliches Skelett zu erkennen, und die beiden Jungen reichten ihr weiter Knochen um Knochen.
»Wie viele hast du jetzt?«, fragte Septimus nach einer Weile.
»Nun ja«, antwortete Jenna und versuchte sich zu erinnern, was sie im Biologieunterricht in der Schule gelernt hatte, »ich habe jetzt zwei fast komplette Arme und ... äh ... acht Finger, aber noch keinen Daumen, glaube ich jedenfalls. Außerdem viele kleine Knochen, von denen ich nicht weiß, wo sie hingehören, vielleicht zum Handgelenk ... Und dann fehlt ein Bein noch komplett, und der Schädel, Gott sei Dank.«
»Aha«, rief Septimus grimmig und zog unter dem umgekippten Sofa ein langes dünnes Teil hervor. »Hier dürfte wohl das zweite Bein drin sein.«
»Richtig unheimlich«, murmelte Beetle und gab Jenna eine Reihe kleiner Knochen. Sie legte sie behutsam an die Stellen, wo sie ihres Erachtens hingehörten, dann stand sie auf und begutachtete ihr Werk. Mittlerweile hatte sie ein nahezu vollständiges Skelett ohne Kopf. Alther schwebte neben ihr. Er schimmerte leicht und sah durchsichtiger aus als sonst. Ein sicheres Zeichen, dass er sich Sorgen machte, wie Jenna wusste.
»Was ist, Onkel Alther?«, fragte sie ihn.
»Ich glaube, wir haben es hier mit einer Platzierung zu tun, Prinzessin. Und allem Anschein nach ist sie noch unvollständig, aber ich würde gern wissen, wie unvollständig sie ist.«
»Wir könnten die Knochen zählen«, schlug Jenna vor. »Aber dazu müssten wir wissen, wie viele Knochen ein Skelett hat.«
»Aber das wissen wir nicht«, sagte Septimus. »Ich jedenfalls nicht.«
»Ich auch nicht«, sagte Jenna.
»Zweihundertsechs«, sagte Beetle.
»Beetle, du bist unglaublich! Aber stimmt das auch wirklich?«, fragte Septimus.
»Ja. Ich habe sie mal gezählt. Das war Teil der Prüfung, die ich ablegen musste, um die Stelle im Manuskriptorium zu bekommen. Sie gaben mir eine Minute, um mir das Skelett im Schrank anzusehen. Dann zerlegten sie es, und ich musste es wieder zusammensetzen – und die Knochen zählen. Ich kam auf zweihundert, und der alte Foxy erklärte mir, dass ich sechs dazuzählen müsste, weil in jedem Ohr drei winzige Knochen sind, die man nicht sehen kann. Das ergab zusammen zweihundertsechs.«
»Gut, dann solltest du das Zählen übernehmen«, sagte Jenna.
»Oh, nein danke.« Beetle schauderte. »Knochen sind nicht mein Fall. Die machen mich ganz kribbelig.«
Jenna machte ein so enttäuschtes Gesicht, dass Beetle sofort nachgab. »Na gut«, erbot er sich, »dann zähle ich sie eben, wenn du willst.« Er machte sich an die Arbeit, und nachdem er die Knochen fünfmal gezählt hatte, sagte er erleichtert: »Fertig. Haargenau dasselbe Ergebnis wie beim letzten Mal. Es sind alle Knochen da. Bis auf den Schädel, versteht sich.«
»Und der wird die Platzierung komplett machen«, sagte Alther.
»Aber warum eine Platzierung mit einem menschlichen Gerippe?«, fragte Septimus. »Macht man das normalerweise nicht mit dem Skelett einer Ratte oder einer Schlange?«
»Normalerweise schon«, pflichtete Alther ihm bei. »Aber das hier sieht mir verdächtig nach einer Personenplatzierung aus – und die sind lebensgefährlich.«
»Entschuldigung«, unterbrach Beetle, »aber was ist denn überhaupt eine Platzierung?«
»Ich bin froh, dass du fragst, Beetle«, sagte Jenna. »Ich weiß es nämlich auch nicht.« Beetle errötete.
»Das ist eine Vorgehensweise in der Schwarzen Magie«, murmelte Alther, der über dem Skelett schwebte und es in Augenschein nahm. »Durch eine Platzierung kann man sich Zugang zu einem Ort verschaffen, der einem sonst verschlossen bleibt. Der Zauberer – und gewöhnlich ist es ein Zauberer, denn solche Dinge können gefährlich werden – schmuggelt auf krummen Wegen die Gebeine eines Geschöpfs über die Schwelle des Hauses, in das er einzudringen wünscht. Die Person, der sein Angriff gilt, muss sie freiwillig hineintragen – er kann sie nicht einfach durchs Fenster werfen. Sie müssen Stück um Stück hineingetragen werden, und wenn der letzte Knochen, und das ist normalerweise der Schädel, die Schwelle überquert hat, setzt sich das Geschöpf selbständig zusammen und vollbringt dann, wozu es gesandt worden ist. Es ist dann praktisch nicht mehr aufzuhalten. Doch eine Personenplatzierung – zu der grundsätzlich Menschenknochen benötigt werden – zählt zu den gemeinsten Tricks der Schwarzen Magie überhaupt. Eine einzige Berührung durch die Platzierung, und das Opfer muss sterben – und schlimmer noch, es verbringt dann ein Jahr und einen Tag in Aufruhr und Verwirrung. Als ich ein Geist wurde, musste ich nur ein Jahr und einen Tag in diesem ungemütlichen Thronsaal herumsitzen ... Aber so lange in Aufruhr und Verwirrung ... das ist furchtbar, einfach furchtbar.« Alther schüttelte den Kopf.
Septimus war erschüttert. »Das Opfer ist Marcia, nicht wahr, Alther?«, flüsterte er.
»Ich nehme es an, Septimus. Ich verstehe nur nicht, wie Weasal so etwas tun konnte ...«
»Was tun konnte, Alther?« Die lila Tür ging auf, und zu aller Überraschung schneite Marcia herein, gefolgt von ihrem Schatten. Sie hielt etwas in der Hand, das wie eine große Hutschachtel aussah. »Schreck, lass nach! Dieser verflixte Drache! Nein, das glaube ich nicht!«
»Marcia«, sagte Alther ganz ruhig, »Sie befinden sich in Lebensgefahr. Ich muss wissen, was Sie in der Schachtel haben.«
»Wovon reden Sie, Alther? Septimus, schaff diese Nervensäge von Drachen in den Hof runter. Ich dulde ihn keine Sekunde länger hier oben.«
Aber Septimus antwortete nicht. Er rannte zu ihr hin und stieß sie zurück in Richtung Tür. »Hinaus, Marcia. Sie müssen hinaus.«
»Septimus, was soll das?«, rief sie und schob ihn weg. Darauf gab er ihr einen kräftigen Stoß, die Schachtel ging auf, und das letzte Teil des Schattenfangs, der große runde Stopper, fiel zu Boden und zersprang. Alle sahen entsetzt zu, wie ein weißer Schädel zwischen den Scherben hervorkullerte und zu den Knochen rollte, die auf dem Boden lagen. Innerhalb weniger Sekunden war der Schädel wieder mit dem Gerippe vereint.
Die Platzierung war komplett.